erstellt 29. April 2024, author: Uscha Ennulat
In der Grundschule spielt die Motivation der Kinder eine entscheidende Rolle für ihren Lernerfolg. Doch wie können Lehrkräfte und Eltern die Kinder dazu motivieren, ohne dabei Druck und Konkurrenz zu erzeugen? Eine Geschichte aus dem Schulalltag wirft ein Licht auf dieses Thema.
Das Konzept der Leseraupe
Ein Bekannter berichtete von einem interessanten Ansatz an der Grundschule seines Sohnes: Die Kinder können Unterschriften sammeln, wenn sie ihre Leseübungen absolvieren. Für jeweils 10 geleistete Leseübungen erhalten sie einen Teil für ihre Leseraupe. Klingt zunächst nach einer motivierenden Idee die meine Augen zum Leuchten brachte. Ich stellte mir vor, wie jedes Kind eine kleine Raupe auf seinem Tisch stehen hat, oder als kleinen Anhänger, den es mit nach Hause nehmen kann.
Der Raupenpranger
Doch hier kommt der Knackpunkt: Alle Leseraupen werden vorne in der Klasse öffentlich angebracht, für jedes Kind sichtbar. Mein erster Gedanken: Oh Gott! Ein Raupenpranger! Auf
den ersten Blick mag dies wie eine nette Visualisierung der individuellen Fortschritte erscheinen. Doch aus der Perspektive leistungsschwächerer Kinder kann dies zu einem Raupenpranger werden,
der unnötigen Druck und Konkurrenz erzeugt.
Sofort entspann sich eine lebhafte Diskussion ob dieser Raupenpranger für alle Kinder förderlich ist. Mein Bekannter war sichtlich begeistert von der Idee, sollen die Kinder doch möglichst früh
lernen, dass sie etwas leisten müssen.
Die Gefahren des sichtbaren Wettbewerbs
Die Botschaft, die von diesem sichtbaren Wettbewerb ausgeht, ist klar: Wer viele Teile für seine Leseraupe sammelt, ist erfolgreich. Doch was ist mit den Kindern, die nicht so viele Teile sammeln können? Ihnen wird indirekt vermittelt, dass sie nicht genug tun oder nicht gut genug sind. Doch wer weiß, ob sie sich nicht schon übermenschlich anstrengen?
Wie wird sich um diese Kinder gekümmert?
Die Übertragung auf die Leistungsgesellschaft
Dieses Prinzip, nach dem diejenigen, die am meisten leisten, am meisten Anerkennung erhalten, zieht sich oft wie ein roter Faden durch unser gesellschaftliches Gefüge. In einer Leistungsgesellschaft werden diejenigen, die nicht so leistungsfähig sind, oft übersehen oder abgehängt. So können beispielsweise Menschen mit Behinderungen, chronischen Krankheiten oder aus schwierigen sozialen Verhältnissen, die nicht die gleichen Chancen haben wie andere, in dieser Wettbewerbssituation benachteiligt sein.
Denken wir zum Beispiel an das Bildungssystem: Dort wird oft übersehen, dass nicht jedes Kind die gleichen Startbedingungen hat. Kinder aus bildungsfernen Familien oder mit Lernschwierigkeiten haben es oft schwerer, mit ihren Mitschülern mitzuhalten. Ähnlich wie bei der Leseraupe in der Grundschule fühlen sich diese Kinder möglicherweise stigmatisiert und minderwertig.
Ein weiteres Beispiel findet sich im Arbeitsleben: Hier werden oft Mitarbeiter nach ihrem Leistungsvermögen beurteilt und belohnt. Menschen, die aufgrund ihrer individuellen Umstände, sei es aufgrund von physischen oder psychischen Einschränkungen oder aufgrund ihrer sozialen Herkunft, nicht die gleiche Leistung erbringen können wie andere, können in dieser Wettbewerbssituation benachteiligt sein. Dies kann zu Ungerechtigkeit, Frustration und einem Gefühl der Ausgrenzung führen.
Die Rolle der Gesellschaft
Es ist wichtig zu erkennen, dass nicht jeder den gleichen Maßstab an Leistung erfüllen kann und dass auch weniger leistungsstarke Menschen einen wertvollen Beitrag leisten können. Eine Gesellschaft, die Vielfalt und Inklusion fördert, sollte daher Mechanismen schaffen, die es jedem ermöglichen, sein volles Potenzial auszuschöpfen, unabhängig von individuellen Unterschieden oder Umständen.
Fazit: Eine ausgewogene Motivationsstrategie für die Gesellschaft
Der Raupen-Pranger verdeutlicht, wie gut gemeinte Motivationsansätze zu ungewollten Nebenwirkungen führen können. Lehrkräfte und Eltern sollten sich bewusst sein, dass Motivation nicht gleichbedeutend mit Wettbewerb und öffentlicher Anerkennung ist. Eine ausgewogene Motivationsstrategie, die individuelle Bedürfnisse und Stärken berücksichtigt, ist der Schlüssel zum langfristigen Lernerfolg der Kinder. In der Gesellschaft sollte eine ähnliche Sensibilität dafür vorhanden sein, dass nicht jeder den gleichen Maßstab an Leistung erfüllen kann und dass auch weniger leistungsstarke Menschen einen wertvollen Beitrag leisten können. Dies erfordert einen Wandel in der Denkweise und eine verstärkte Bemühung um Inklusion und Diversität in allen Lebensbereichen.